Interview der italienischen Journalistin Roberta del Vaglio mit Stefanie Hering Frühjahr 2021

Erstveröffentlichung in MOHD Magazine und La Casa in Ordine


Was treibt Stefanie Hering an? Welche Chancen, aber auch Herausforderungen sieht sie in der Zukunft des Produktdesigns? Im Gespräch mit der italienischen Journalistin Roberta del Vaglio erläutert die Designerin ihre Gestaltungsphilosophie, beschreibt ihren Fokus in der Arbeit mit dem Werkstoff Porzellan und hält auch Empfehlungen für Jungdesigner parat.

Roberta del Vaglio: Wie sind Sie zum Porzellan gekommen und warum haben Sie sich dann dem Geschirr gewidmet?

Stefanie Hering: Meine Leidenschaft für Porzellan rührt zum Teil aus meiner Kindheit. Das gemeinsame Essen war ein zentraler Bestandteil und wichtiger Moment des Familienlebens. Mir war schon früh klar, dass das Essen und das Geschirr, das auf den Tisch kommt, eine entsprechende Bühne verdient. Und diese Bühne wollte ich bauen. Als Designerin weiß ich heute genau, was mein Stil ist, was ich der Welt geben möchte – und als Keramikmeisterin weiß ich, wie ich es in meinen Kreationen umsetzen kann. Die Weiterentwicklung der Tischkultur mit überraschenden neuen Formen und Möglichkeiten ist mein Ansatz.

RdV: Wie hat sich der Tisch in den letzten Jahren verändert? Was verschwand und was kam hinzu?

SH: Ein sehr wichtiges Thema für mich, das sich in den letzten Jahren rasant verändert hat und gerade in der aktuellen Zeit an Fahrt gewinnt, ist das Thema Nachhaltigkeit - das geht einher mit der gesellschaftlichen Wiederentdeckung von Manufakturarbeit und der zunehmend hohen Wertschätzung von Handwerkskunst, egal in welchem Bereich. Eine sehr positive und ebenso überfällige Entwicklung! Was wir in meiner Manufaktur Hering Berlin machen, passt in die Zeit und in die Zukunft. Das Porzellanhandwerk und die Ausbildung in Deutschland sind auch heute noch von sehr hoher Qualität. Diese Tradition möchte ich in das 21. Jahrhundert tragen: Denn durch die Herstellung in Handarbeit ist jedes einzelne Stück ein Unikat, das immer wieder aufs Neue erfreut und uns ein Leben lang begleitet. In jedem Objekt von Hering Berlin steckt ein Wissen, das über Generationen weitergegeben wurde - und eine Liebe zum Detail, die nur in einer rein handwerklichen Fertigung möglich ist. Kleine Abweichungen von der Norm sind hier eher eine Auszeichnung als ein Makel. Sie sind ein Zeichen für die Spur der Hand. Das nenne ich Mindful Luxury!

RdVWas sind die Elemente, die auch auf dem alltäglichen Tisch nicht fehlen dürfen?

SH: Die Momente des Beisammenseins am Tisch sind kostbar geworden. Deshalb finde ich es besonders wichtig, sich bei der Gestaltung des Esstisches zu verwöhnen und vielleicht sogar neue Rituale zu Hause zu etablieren, sei es ein kleiner Brunch, ein Fünf-Uhr-Tee oder ein schön inszeniertes Dinner. Dazu empfehle ich, den Tisch etwas dichter zu arrangieren und die Tischmitte mit Tafelaufsätzen aus Porzellan oder Gusseisen, Kerzen und Blumen zu strukturieren. Meine Devise lautet: Mit Geschirr und Dekor kann man am Tisch ruhig opulent sein. Ich rate auch dazu, eine Architektur am Tisch zu schaffen. Das bedeutet, mit unterschiedlichen Höhen von Tellern, Gefäßen und Objekten zu spielen.

RdV: Gibt es ein neues Projekt, das Sie mit uns teilen möchten?

SH: Ich möchte die Grenzen dessen, was bisher mit Porzellan möglich war, verschieben. Hier kommt mir natürlich meine Expertise als Keramikmeisterin zugute, denn ich weiß genau, wie das Material Porzellan bearbeitet werden kann, wie neue Verfahren und damit auch visionäre Entwicklungen vorangetrieben werden können. Größe ist ein Thema, Strukturen und Glasuren sind es auch. Sowohl die Größe als auch die Glasuren von Porzellanobjekten setzen den Industrieunternehmen klare Grenzen. Mit meiner rein handwerklichen Manufaktur kann ich ganz anders agieren. Ich experimentiere! Insofern sind wir die Keimzellen für Porzellaninnovation. Ein Beispiel ist die Farbglasur Blue Silent: Das zentrale Merkmal ist eine auf Erden und Mineralien basierende Glasur, die auf der Anrichtefläche ausgegossen wird, während der Rand in jenem puren, unglasierten und samtigen Biskuitporzellan verbleibt, das für Hering Berlin Porzellane typisch ist. Nur: Porzellan lässt normalerweise keine derartigen Glasuren zu, weil sie den hohen Brenntemperaturen nicht Stand halten. Also habe ich so lange in unserer Manufaktur getestet, mit Ton, mit Erden probiert, die wir so aufarbeiten, dass sie hochfeuerfest sind, dass sie mit den Glasuren eine Symbiose eingehen. Im Bereich Glasuren wird es von mir auch 2021 neue Farben geben, die so noch nirgendwo existieren.

RdV: Was bedeutet es, eine Frau in der Designbranche zu sein, und was würden Sie jungen Frauen empfehlen, die in diese Welt einsteigen?

SH: Meine Empfehlung für Jungdesignerinnen lautet: Eine starke Idee. Eine mutige Vision. Absolute Konsequenz. Und Resilienz auf dem Weg. Was jede Frau in besonderem Maße im Kreativbereich braucht, sind zudem Verbündete. Einflussreiche Frauennetzwerke unter Designerinnen gibt es noch viel zu wenig. Das liegt auch an der jungen Geschichte von Frauen in der gestalterischen Praxis. Nehmen Sie Deutschland: Bis auf wenige Ausnahmen hatten im frühen 20. Jahrhundert Frauen in Deutschland zu Kunstakademien keinen Zugang; sie konnten lediglich Privatunterricht nehmen. Als Walter Gropius 1919 in Weimar das Staatliche Bauhaus eröffnete, konstatierte er: "Als Lehrling aufgenommen wird jede Person ohne Rücksicht auf Geschlecht, deren Begabung als ausreichend erachtet wird." Somit war der Grundstein für die gleichberechtigt künstlerisch handwerkliche Ausbildung von Frauen gelegt, vor allem auch in meinem eigenen Feld – der Herstellung von Keramik und Porzellan. In den letzten Jahrzehnten erst hat sich die künstlerische Entwicklung von Frauen in Europa weiterhin emanzipiert. Man braucht eine starke innere Überzeugung und unantastbare Widerstandskraft, diesen Weg zu gehen. Das meine ich mit Resilienz.

RdV: Gibt es viele Frauen in Ihrem Team?

SH: Rund 60 Prozent. Im Manufakturbereich. Im Vertriebs- und Marketingbereich. Im Sales-Bereich. Ich unterstütze Designfirmen, die ganz bewusst auf eine 100% Frauenquote setzen. Für mich selber aber habe ich entschieden, bei der Zusammensetzung meines Teams ausschließlich auf Begabung, Kenntnisse und Erfahrungen zu setzen. Das finde ich persönlich sehr authentisch und natürlich. Mein fantastisches Team zeigt mir jeden Tag, dass es funktioniert.

RdV: Was ist die Bedeutung des Icons-Projekts?

SH: Die ICONS sind Marksteine in den Collectionen von Hering Berlin und auf meinem eigenen Weg als Designerin. Sie sind Zeugnis meiner seit Jahren schon konstruktiven Auseinandersetzung mit dem Werkstoff Porzellan. Die von mir hier ausgewählten Icons werden längst von Sammlern und Designinstitutionen auch als Ikonen in der zeitgenössischen Porzellankultur betrachtet und benannt. Deshalb nehme ich diesen Namen jetzt für diese – übrigens auch mit internationalen Designpreisen ausgezeichneten – Stücke mit Ehre an.

RdV: Können Sie uns mehr über die Stücke erzählen, die in Icons enthalten sind?

SH: Die Icons streifen das Korsett einer an ihre Funktion gebundenen Form ab. Drei Beispiele: Für die 1992 von mir entwickelte Kumme, Form 604, habe ich zunächst die Basisform entwickelt – eine Form, die so scharf ist, dass es knackt –, und dann geschaut: Was schafft diese Form? Wie weit kann ich damit gehen, ihr Strukturen einzuschreiben, bevor sie an Schärfe einbüßt?
Die monolithischen Schalen der Form 602 reflektieren hingegen meine Experimente mit der Balance einer Form: Wie weit kann die Öffnung im Verhältnis zum Fuß auskragen, bevor das Objekt seine Standfestigkeit, nie aber seine klare Linie verliert?
Ein kleines Meisterstück unter den Schalen Form 601 ist ein Exemplar aus der Lochmuster-Collection „Cielo“: Hier werden mit einem Handbohrer feinste Löcher in den breiten Rand der Schale gestanzt. Sie sorgen nicht nur für ein raffiniertes Licht- und Schattenspiel, sondern loten wiederum die Stabilität des Materials bis an seine absoluten Grenzen aus.

RdV: Womit könnte man eine Keramiksammlung anfangen?

SH: Beginnen Sie immer mit Ihren Lieblingsstücken. Das ist eine intuitive Auswahl, die zumeist goldrichtig ist. Wie bei Kunst. Nicht nach vermeintlich monetärem Wert sammeln, sondern behutsam genau die Stücke auswählen, mit denen ich mich umgeben will, mit denen ich aktiv im Alltag leben will, die ich gerne ansehe, fühle und mich an Ihnen immer wieder erfreue. Für mich persönlich sind das ganz klar Stücke aus Biskuitporzellan – meine Spezialität.

RdV: Gibt es einen Designer aus der Vergangenheit, von dem Sie sich inspiriert fühlen?

SH: Von Ludwig Mies van der Rohe stammt das Zitat: “Das Material ist schön – wir sollen es zeigen”. Darin liegt auch mein persönliches Postulat, wenn ich entwerfe – und damit meine Sympathie für den Gestalter und Architekten Mies van der Rohe. Denn: In der Konzentration auf die Essenz liegt die Vollendung der Form. Egal, mit welchem Werkstoff wir Designer arbeiten, meine ganz entschiedene Meinung ist, dass man dem Material Raum zum Atmen und für seine Entfaltung lässt. Ich zwinge dem Porzellan keine Form auf, sondern betone seine Schönheit in einer organisch gewachsenen Gestaltung. Dazu muss man seinen Werkstoff aber eben auch ganz genau kennen. Diese Qualität sieht man in allen Entwürfen, die uns zu Recht am meisten faszinieren: Sie strahlen eine Leichtigkeit, Selbstverständlichkeit und Formschönheit aus, die vom Material und seiner hohen Ästhetik selber lebt.